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Verteidigungsausgaben – wehrhafte Demokratie – Giovanni Bocaccio – Herausforderungen für den Liberalismus

Von allen Seiten erklingt das „Säbelrasseln“ (Frank-Walter Steinmeier): Robert Habeck gibt als Ziel aus, 3,5 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben. Donald Trump fordert 5 Prozent von den NATO-Mitgliedern. Im Alltag hieße das: Wenn einem sowohl der Postbote als auch der Schwiegervater sagen, dass man mal was an seinem Gewicht tun sollte, kann das ein Alarmsignal sein…

ANSICHT

Photo: Harke from Wikimedia Commons (CC 0)

Was uns bewegt

Von allen Seiten erklingt das „Säbelrasseln“ (Frank-Walter Steinmeier): Robert Habeck gibt als Ziel aus, 3,5 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben. Donald Trump fordert 5 Prozent von den NATO-Mitgliedern. Im Alltag hieße das: Wenn einem sowohl der Postbote als auch der Schwiegervater sagen, dass man mal was an seinem Gewicht tun sollte, kann das ein Alarmsignal sein.

Russland hält seine Militärausgaben seit Jahren in diesem Bereich. Unter Xi hat sich in China eine nationalistische und imperialistische Propaganda in die Köpfe und Herzen vor allem der jungen Menschen eingebrannt. Der Iran ist zwar massiv in die Defensive geraten in den letzten paar Jahren, aber gerade das kann ja Gewalt triggern. In westlich gesinnten Staaten (mit Ausnahme der USA) hat man allerdings seit dem Ende des Kalten Krieges das Thema Militär entspannt beiseitegelegt. Hier in Deutschland zu einem Ausmaß, dass wir wahrscheinlich von der Schweiz oder Tschechien in wenigen Tagen besetzt werden könnten.

1960 zum Beispiel oder 1975 lag der Anteil der Militärausgaben am BIP hierzulande auch bei den Habeckschen 3,5 Prozent. Das Land konnte sich das leisten. Und es wollte sich das leisten. Donald Trump hat vollkommen recht, wenn er sagt, dass die NATO-Staaten deutlich höhere Ausgaben stemmen können, auch wenn die fünf Prozent vielleicht etwas übertrieben sein mögen. Ein wohlhabendes Land wie Deutschland kann es sich allemal leisten, deutlich mehr zu investieren. Und womöglich haben wir auch eine Verantwortung gegenüber ärmeren NATO-Partnern.

Das Problem ist, dass wir es uns nicht leisten wollen. Dass wir andere Prioritäten setzen. Der Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung ist zum Beispiel seit Ende des Kalten Krieges um 455 Prozent gestiegen. Die Ausgaben des Bundes für Pensionen, Hinterbliebenenversorgung und Beihilfen um 335 Prozent. Zwar musste in der Zeit auch die Rentenlücke zu den neu hinzugestoßenen Bundesländern geschlossen werden. Doch zugleich vergingen immer mehr Jahre seit der letzten großen Vermögensvernichtung im Zweiten Weltkrieg. Es konnten sich also signifikante Teile der Bevölkerung durch Anlegen, Investieren und nicht zuletzt Erben finanzielle Sicherheit ermöglichen. Und noch etwas: immer mehr Menschen haben sich durch die Entscheidung zu weniger oder keinen Kindern Ressourcen freischaufeln können, die sie vielleicht nicht ausschließlich in Konsum gesteckt haben, sondern in Vermögensaufbau. Die Rentengießkanne wäre eigentlich nur noch in den „neuen“ Bundesländern zu rechtfertigen gewesen. Auch der „Alterssicherungsbericht“ der Bundesregierung spricht eine klare Sprache. Dort heißt es: „Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen von älteren Paaren liegt bei monatlich 3.759 Euro. Bei alleinstehenden Männern sind es 2.213 Euro, alleinstehende Frauen haben mit 1.858 Euro ein im Durchschnitt geringeres Einkommen.“ Und „Insgesamt nehmen nur 3,9 Prozent der Bevölkerung im Alter ab der Regelaltersgrenze Grundsicherungsleistungen in Anspruch.“

Wenn Respekt, Sicherheit und all die anderen Blumigkeiten, mit denen sich die Parteien jetzt wieder in das Wahlgetümmel begeben, unter den derzeitigen geopolitischen Bedingungen wirklich gelten würden, müsste es zum Beispiel heißen: Keine Pensions- und Rentenerhöhungen mehr für alle außer das ärmste Viertel bis Deutschland wieder in der Lage ist, sich und seine Partner verteidigen zu können. Denn wenn Polen ein russischer Satellitenstaat geworden ist und Japans Wirtschaftspolitik aus Peking diktiert wird, wird auch die Finanzierung der nächsten Mütterrente nicht mehr so leicht klappen.

AUSBLICK

Was uns interessiert

„Es ist fraglich, ob der der Mitte zugeneigte Charakter der Deutschen sich hätte so entscheidend radikalisieren lassen, wenn nicht ein anderes Bild vor Augen getreten wäre, dessen Lockung er in zunehmendem Maße unterlag: Die Faszination durch die Regierungsführung der Diktatur. … Die Abdankung der Selbstentscheidung, die Ausschaltung der freien Selbstbestimmung zugunsten des Führerideals ist die Reflexwirkung jener Überspannung des Politischen, die seit bald zwei Jahrzehnten die gegenwärtige Generation in Atem hält.“

Klingt alles recht bekannt, oder? Diese Beobachtungen stammen aus dem Anfang der 1930er Jahre entstandenen Buch „Apologie des liberalen Staatsdenkens“ des Juristen und Politiktheoretikers Karl Loewenstein (1891-1973), das im letzten Jahr erschienen ist, nachdem der Münsteraner Nachwuchswissenschaftler Michael Kubitschek es aus Archivtiefen in Massachusetts gezogen und anschließend editiert hat. Der erfolgreiche Rechtsanwalt Loewenstein, der seit 1931 als Privatdozent an der Universität in München lehrte, wurde als Jude im Herbst 1933 aus dem Unibetrieb ausgeschlossen und verließ Deutschland im Winter des gleichen Jahres in Richtung USA. Dort wirkte er wissenschaftlich und aktivistisch und entwarf unter anderem das Konzept der „militant democracy“, der streitbaren oder wehrhaften Demokratie. Wie in einem Brennglas finden sich auch heute höchst aktuelle Fragen in seiner Streitschrift wieder, die schmal genug ist, um sie an einem Nachmittag sorgfältig durchzulesen, und dicht genug, um noch lange Zeit darüber nachzudenken.

WELTBEWEGER

Photo: Wikimedia Commons (CC0)

Wer etwas bewirkt

Die Möglichkeit zur Identifikation ist ein entscheidendes Momentum dabei, sich als Individuum auszubilden. Traditionell dienen dazu Eltern, Geschwister und andere Familienmitglieder, Freundinnen und Lehrer, und irgendwann auch mal Arbeitskollegen oder Vorgesetze. Darüber hinaus suchen wir uns aber auch – gerade wenn die Pubertät einsetzt – Figuren, die uns nicht mehr durch Umstände vorgegeben sind, sondern solche, die wir frei wählen, weil sie unserem Charakter und Selbstbild entsprechen. Heutzutage haben wir eine unüberschaubare Zahl an Identifikationsoptionen – von Billie Eilish bis Jordan Peterson, von Arya Stark bis Armand Duplantis. Doch das war nicht immer so. Wer vor tausend Jahren lebte, der kannte ein paar Sagen- und Märchengestalten und einige Personen der Bibel. Das war’s.

Es waren Menschen wie Giovanni Bocaccio (1313-1375), die das Identifikationsuniversum erweiterten und damit eine ganz neue Kunstform begründeten, die uns heute noch maßgeblich prägt. Sein Hauptwerk „il Decamerone“ versammelt 100 Novellen, also frei erfundene Erzählungen mitten aus dem Leben. Bis dahin war es undenkbar gewesen, dass jemand so persönlich als Urheber einer Geschichte auftritt – und dass diese Geschichten nicht von Königen

oder Heiligen handelten, sondern von normalen Menschen. Die klassische Literatur, wie wir sie im Abendland kennen, hat in diesem Umfeld ihren Anfang genommen. Die Erzählfreude von Boccaccio und den unzähligen von ihm inspirierten Autoren ist ganz wesentlich dabei gewesen, in der Gesellschaft das Verständnis des Individuums heranwachsen zu lassen, das eigene Entscheidungen fällt, das sich selbst definiert und das so zur Entstehung von immer mehr Vielfalt und Innovation beiträgt. An der Wiege der Moderne steht an prominenter Stelle der unehelich geborene Kaufmannsgeselle und Jurastudent, der dann alle ihm offen stehenden gesellschaftlichen Erfolge links liegen ließ, um das zu tun, was seine Leidenschaft war: erzählen.

MITSTREITER

Was andere machen

Am 16. Januar veranstalten in Berlin die Kollegen vom Zentrum Liberale Moderne eine Konferenz unter dem Titel „Herausforderungen für den Liberalismus in turbulenten Zeiten“. Mit dabei sind unter anderem der Liberalismus-Experte Alan S. Kahan, dessen umfassendes Werk „Freedom from Fear: An Incomplete History of Liberalism“ 2023 erschienen ist. Besonders freut es uns, dass der erste Preis des Essay-Wettbewerbs, der bei dieser Veranstaltung verliehen wird, an unseren ehemaligen Transatlantic Tax Fellow Joost Haddinga geht für sein Essay „Autokraten sind die besseren Wirtschaftsführer? Von wegen!“. Herzlichen Glückwunsch!