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Liberaler Werkzeugkasten – Vibe Shift – Ruth Bader Ginsberg

Die identitäre Linke ist für Liberale einfache Beute: Utopisch in den Zielen, scharf in der Kritik, illiberal in vielen ihrer Instrumente. Und doch: So ganz leicht abtun können wir ihre Einsichten nicht. Wenngleich Liberale sich den identitären Instrumenten zur vermeintlichen Gerechtigkeitsherstellung verweigern müssen, so müssen sie sich doch manchen der Probleme annehmen, auf die identitäre Linke hinweisen.

ANSICHT

Anton Savinov from Unsplash (CC 0)

Der kleine Werkzeugkasten der Liberalen

Die identitäre Linke ist für Liberale einfache Beute: Utopisch in den Zielen, scharf in der Kritik, illiberal in vielen ihrer Instrumente. Und doch: So ganz leicht abtun können wir ihre Einsichten nicht. Wenngleich Liberale sich den identitären Instrumenten zur vermeintlichen Gerechtigkeitsherstellung verweigern müssen, so müssen sie sich doch manchen der Probleme annehmen, auf die identitäre Linke hinweisen. Das gilt besonders für ihre Sorge vor sozialen Strukturen, die unterdrücken und Menschen in ihrer freien Entfaltung hindern.

Lange bevor Intersektionalität ein Streitwort wurde, hatte schon John Stuart Mill begriffen, dass soziale Gewissheiten, vorherrschende Meinung und gezielter sozialer Druck schwer wiegen können. Darunter leidet die Freiheit des Einzelnen und der Rahmen schrumpft, innerhalb dessen er oder sie ihre Lebensziele ungestört verfolgen können. Na klar, die Liberale weiß: Solange Menschen nicht gewaltsam gezwungen werden, sollte auch nicht der gewaltsam zwingende Staat eingreifen. Doch wo lässt das Liberale in all den gewaltlosen Fällen?

Manche Fälle gewaltloser Einschränkung haben Liberale schon für sich entdeckt und dann auch erkannt, dass sie mehr tun können, als Staatseingriffe abzulehnen. Wer etwa Cancel Culture ablehnt, fordert ja mehr als reine Enthaltsamkeit des Staates. Er fordert, dass Individuen, die zum Beispiel über Anstellungsverhältnisse entscheiden, und Gruppen, die auf diese Individuen durch Meinungsäußerung Druck ausüben könnten, sich tolerant zeigen. Gegner einer Cancel Culture haben Sorge vor einem Klima der Angst, vor den sozialen Effekten von schlecht greifbaren sozialen Phänomenen.                       

Wenn also schon von den liberalen Gegnern einer Cancel Culture erkannt wurde, dass soziale Effekte dieser Art wirken können – wieso verwehrt man den linken Theoretikern das Zugeständnis, dass auch ihre Analyse von Sexismus, Rassismus oder anderen sozialen Formen der Unterdrückung soziale Effekte dieser Art sein können? Auch hier müssen Liberale wieder darauf bestehen, dass bei abwesender physischer Gewalt auch der physisch zwingende Staat abwesend bleibt. Der Staat muss also eingreifen, wenn, wie in Berlin beizeiten, offen schwule Paare mit Gewalt bedroht werden. Wird jedoch im Bridge-Club abfällig über die offene Ehe gesprochen, die die Enkelin einer der Teilnehmerinnen führt – dann darf der Staat nicht eingreifen. Das widerspricht vielen politischen Forderungen der identitären Linken. Dennoch: Die Gesellschaft, nicht der Staat, sollte sich dem hehren Ziel, auch gewaltlose soziale Formen von Einschränkung aufzuheben, jedoch allemal verschreiben dürfen. Sie muss ihr soziales Gewicht dem der unterdrückenden Strukturen von Rassismus, Sexismus und Co. entgegenstellen können. Die großen intellektuellen Fragen – was also soziale Strukturen wirklich sind, wie sie entstehen, am Leben gehalten werden und auch wieder vergehen – sind damit nicht beantwortet. Auch kann das Ziel hier immer nur die Freiheit der jeweiligen Menschen und kein gruppenbasierter Status sein. Doch klar ist auch: Nur weil der Zwang nicht physisch und nicht staatlich ist, dürfen Liberale nicht die Augen verschließen.

AUSBLICK

Iris Marion Young Justice and the Politics of Difference

Wer sich den unsichtbaren, aber wirksamen sozialen Strukturen widmen und unsere Diskurse verstehen will, dem sei Iris Marion Youngs Justice and the Politics of Difference ans Herz gelegt. Ganz besonders das Kapitel Five Faces of Oppression. Mindestens bis zum Vibe Shift in den USA, der langsam auch Deutschland erreicht, kann dieses Buch unsere öffentlichen Debatten auf eindrucksvolle Weise erklären. Geschrieben vor 35 Jahren, ist alles vorhanden, was den Diskurs der letzten Jahre von Links ausmachte: Unterdrückung, Marginalisierung, Strukturen und vieles mehr. Wer diese Ideen im Kontext ihrer Entstehung betrachtet, der oder die kann besser ihre Stärken und Schwächen beurteilen. Für Liberale sind viele ihrer Ideen und Forderungen leicht abzulehnen und doch wirft Young Probleme auf, für die wir bis heute keine wirksamen und gleichzeitig freiheitssichernden Antworten gefunden haben.

WELTBEWEGER

National Archives and Records Administration from Wikimedia Commons (CC 0)

Ruth Bader Ginsberg

Ist Unrecht erst einmal gesetzlich verankert, helfen dagegen neben politischen Kampagnen auch strategische Klagen und rechtliches Engagement. Darin war Ruth Bader Ginsburg groß, schon lange bevor sie Richterin am Supreme Court wurde. Geboren 1933 als Kind von jüdischen Einwanderern, ihr Vater aus Russland, ihre Mutter aus Polen, musste sie als jüdische Frau gleich mehrere Hürden überwinden, um ihrem Traum des Jura Studiums nachgehen zu können. Umso beeindruckender, dass sie genau 60 Jahre später die zweite Frau in den Reihen des Supreme Court wurde.

Bekannt ist Ginsberg für die Fälle, in denen sie zunächst als Anwältin und später als Richterin Urteile gegen Diskriminierung erwirkte. In vielen Fällen ging es dabei um die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern durch den Staat und durch staatliche Institutionen: öffentlich finanzierte Schulen, das Militär, Sozialgesetze und Sorgerecht. Dass etwa in den USA Frauen im Militär den gleichen Anspruch auf finanzielle Unterstützung für ihren Partner haben wie Männer und dass auch alleinerziehende Väter die Vorteile des Sorgerechts erhalten können, verdanken die Amerikaner Ruth Bader Ginsburg.