Digitaler Kontrollverlust – Was ist Libertarismus? – Max Hirsch
- by Anouk
Wenn sich Liberale und ihre Kritiker auf eines einigen können, dann darauf: Privates Eigentum ist ein zentrales Element des liberalen Denkens. Zumindest war es das in der Welt von gestern – einer Welt, in der Eigentum etwas war wie Häuser oder Kleidung, Druckerpressen oder Bücher…
ANSICHT

Kontrollverlust in der digitalen Welt
Wenn sich Liberale und ihre Kritiker auf eines einigen können, dann darauf: Privates Eigentum ist ein zentrales Element des liberalen Denkens. Zumindest war es das in der Welt von gestern – einer Welt, in der Eigentum etwas war wie Häuser oder Kleidung, Druckerpressen oder Bücher. Die Welt von morgen dagegen ist digital oder zumindest digitalisiert. Digitale Bücher, Filme oder Musik, smarte Waschmaschinen und Druckerpatronen mit Chips. Eigentum ist Liberalen auch in dieser Welt wichtig, sagen wir. Doch was uns gar nicht auffällt: In der digitalen Welt verschwindet leise unser Eigentum.
Das beginnt schon bei Haushaltsgeräten. Wer in der Schweiz manche neue Spülmaschine, Waschmaschine oder einen Trockner der Firma V-Zug erwirbt, erhält nicht einfach ein Gerät mit vollem Funktionsumfang, sondern muss die sanfte Wäsche oder den besonderen Schleudergang zusätzlich abonnieren. Was früher mit dem Kauf vollständig dem Nutzer gehörte, ist heute in Teilen nur noch zeitweise freigeschaltet – gegen eine monatliche Gebühr. In den USA geht HP sogar noch weiter: Ganze Drucker werden dort im Abo-Modell angeboten – inklusive Tintenpatronen. Doch endet das Abo, endet auch die Nutzung: Der Drucker muss zurückgegeben werden, und selbst vorhandene Patronen funktionieren dann nicht mehr. Deren Nutzung lässt sich technisch unterbinden, dank der Chips in den Patronen. Und um auch die Auto-Liberalen abzuholen: Wer heute einen neuen BMW kauft, besitzt längst nicht mehr alle technischen Funktionen des Fahrzeugs. Die Sitzheizung muss für 17 Euro im Monat dazugebucht werden, der Fernlichtassistent kostet ab 8 Euro, der Fahrassistent ab 40 Euro monatlich. Bezahlt man das Abo nicht mehr, verliert das eigene Auto schnell viele der schönen Fähigkeiten.
Doch nicht nur physische Produkte entziehen sich immer mehr dem klassischen Eigentum. Auch die digitalen Medien, die man meinte, gekauft zu haben, sind gar nicht privates Eigentum geworden. Wer seine Filme bei Amazon Prime oder seine Musik, wie vor Spotify kurz üblich, bei iTunes gekauft hat, dem kann es passieren, dass sie einfach so aus der Mediathek verschwinden. Dann ist etwa die Lizenz, die Amazon oder Apple erworben haben, abgelaufen – und der neue Film nicht mehr zu sehen. Rechtlich gehört uns nichts davon. Statt Eigentum erwerben wir Nutzungsrechte, im Rahmen der jeweiligen Nutzungsbedingungen. Das bedeutet auch: Wird der eigene Account vom Anbieter gesperrt – etwa, weil man mithilfe von VPN die Werbung umgehen wollte – kann man nicht mehr auf gekaufte Filme zugreifen.
Wer bei alldem die liberale Furcht vor dem Totalitarismus erinnert, dem werden auch Kindle E-Books unheimlich. Wenn nämlich erst einmal genügend Menschen Bücher digital erwerben, können diese über Nacht von allen Geräten verschwinden – weil sie etwa dem Unternehmen unbequem geworden sind. Und dank des Druckers mit Chips braucht man auch nicht mehr darüber nachdenken, kritische Flugblätter dagegen zu verteilen. Hätten DDR-Dissidenten in einer solchen Welt — digital und digitalisiert — gegen den Unrechtsstaat kämpfen müssen, dann hätte es die befreiende Revolution wohl deutlich schwerer gehabt.
AUSBLICK

Buch-Empfehlung: The Individualists von Matt Zwolinski und John Tomasi
Libertäre hier, Libertäre dort, von Ulf Poschardt bis Peter Thiel, von Paleo bis Bleeding-Hearts. Aller Beliebtheit des Labels zum Trotz – so richtig viel Ahnung vom Libertarismus gibt es in der öffentlichen Debatte nicht. Deshalb empfehle ich gerne Matt Zwolinski und John Tomasis Buch The Individualists (2023). Die beiden Autoren bieten einen hilfreichen Überblick über die Entwicklung des Libertarismus, der laut ihnen in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist und sich seitdem in drei Wellen entwickelt hat. Dabei schaffen sie es, die teils sehr spannungsreichen Ideen von Libertären hilfreich in sechs grundlegende Überzeugungen zu sortieren. Zentral sind für Libertäre demnach: privates Eigentum, freie Märkte und spontane Ordnung; negative Freiheit, Individualismus und Skepsis jeder Form von Autorität gegenüber. Alle Libertären, so die Ideen von Zwolinski und Tomasi, teilen einen Großteil dieser Überzeugungen, auch wenn sie sie unterschiedlich deuten oder betonen.
Wer John Tomasi beim Open Summit 2023 in Berlin gehört hat, den wird meine Empfehlung nicht überraschen. The Individualists ist vor zwei Jahren erschienen und war schon da hochaktuell. In den letzten Monaten wurde die Debatte um Musk und Milei und die neuen Vordenker rund um Trump immer wieder am Begriff der Libertären aufgehangen. Umso mehr lohnt es sich deshalb heute, dieses ausgeglichene und kluge Buch zur Hand zu nehmen, um etwas Ordnung im Kopf zu schaffen.
WELTBEWEGER

Max Hirsch
Liberale fordern häufig, dass Hilfe für Schwache nicht durch den Staat, sondern von der Zivilgesellschaft organisiert werden sollte. So richtig praktisch Solidarität organisieren, das machen weite Teile der liberalen Zivilgesellschaft jedoch oft nicht. Ganz anders war das bei Max Hirsch. 1832 geboren, hat Hirsch Genossenschaften organisiert, liberale Bildungsvereine für Arbeiter gegründet und als Gegner stattlicher Interventionen praktische Solidarität unter Arbeitern durch eigenes Engagement ermöglicht. Das verbindet ihn mit Hermann Schulze-Delitzsch, mit dem er die „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ ins Leben rief, und mit Franz Duncker, der mit ihm die „Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine“ gründete. Von 1869 bis 1893 war Hirsch zudem Abgeordneter im Reichstag des Norddeutschen Bundes und im Reichstag des Kaiserreiches, zunächst für die Fortschrittspartei, dann für die Freisinnigen. Noch bis kurz vor seinem Tod, 1905, hat er die Geschicke seiner liberalen Gewerkschaft gelenkt.
Ich bin auf Max Hirsch gestoßen, als ich nach der Geschichte liberaler Volkshochschulen gesucht habe. Denn Hirsch hat 1871 mit der „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ den Verein für liberale Volkshochschulen und Arbeiterbildungsvereine mitgegründet. Die Idee dahinter war, durch Selbsthilfe und gemeinschaftliche organisierte Vorträge das eigene Wissen zu erweitern und Aufklärung zu erlangen – ohne auf die Obrigkeit angewiesen zu sein. Einige Jahre später rief Hirsch dann auch die Humboldt-Akademie in Berlin ins Leben. Sie sollte Menschen, die eine Universität nicht oder nicht mehr besuchen konnten, Zugang zu den Fortschritten der sich damals rapide entwickelnden Wissenschaften bieten.
Heute gibt es staatliche Schulbildung, verpflichtend bis zum 16. Lebensjahr, dann staatlich geregelte Ausbildungs- oder Studiengänge für alle. Arbeiterbildungsvereine scheint es also keine mehr zu brauchen. Und doch hat die Idee von selbstorganisierter Bildung für Erwachsene noch ihren Reiz. Ziel war nie, nur das zu erlernen, was sich wirtschaftlich rechnet. Sondern breite Schichten der Gesellschaft den Zugang zu politischen Debatten, wissenschaftlichen Ideen und anspruchsvollem Kulturgut zu ermöglichen. Nicht vorgekaut und aufgezwungen, sondern aus eigenem Interesse und selbst organisiert. Bei alledem, was uns häufig an staatlicher Schulbildung stört, stellt sich die Frage: Wer hindert uns eigentlich daran, heute unsere eigene Gesellschaft für die Verbreitung von Volksbildung zu gründen? Vielleicht dann mit einem neuen Namen.